28.12.2015

Richard Price – Die Unantastbaren

(«The Whites», 2015, Henry Holt & Company, New York)

Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow

2015, S. Fischer, Frankfurt am Main, 427 Seiten


****1/2


Der erste Satz
Als Billy Graves auf seinem Weg zur Arbeit die Second Avenue runterfuhr, ärgerten ihn die vielen Menschen: morgens Viertel nach eins, und noch immer drängten weit mehr Leute in die Bars, als rauskamen, und mussten sich in beide Richtungen durch wogende Knäuel angesoffener Raucher wühlen, die direkt vor den Eingängen standen.

Das Buch
Billy Graves schiebt Nachtschicht als Detective der New Yorker Polizei.

Es gab echte Draufgänger, selbst im Nachtdienst, aber zu denen gehörte Billy nicht. Er hoffte eigentlich immer, dass im nächtlichen Chaos von Manhattan für sein Team nichts Ernstes anfiel, nur Kleinscheiss, den man der Streife rüberschieben kann.
(…)
Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm schon mal eine Seniorenermässigung fürs Kino eingebracht. Der Mensch war nicht dazu gemacht, erst nach Mitternacht mit der Arbeit anzufangen – Ende der Durchsage, scheiss auf die Zuschläge.

Neben der zermürbenden Nachtarbeit machen Billy Graves derzeit zwei Sachen schwer zu schaffen. Einerseits ist da eine Gruppe von Freunden, alles ehemaligen Kollegen, mit denen er sich regelmässig trifft. Jeder von ihnen hat seinen Dämon, der ihm nie aus dem Kopf geht: einen Mörder, bei dem die zulässigen Beweise nicht dafür reichten, ihn hinter Gitter zu bringen. Und nun werden diese «Unantastbaren», einer nach dem anderen, aus dem Verkehr gezogen. Üben seine Freunde Selbstjustiz? Wie soll er darauf reagieren? Andererseits werden Billy und seine Familie von einem Stalker heimgesucht, einem Polizisten, dessen Geschichte in parallelen Kapiteln erzählt wird.
Price pflegt einen harten, realistischen Stil, gepaart mit schwarzem Humor, allerhand Situationskomik und präzisen Dialogen.

Die Nacht entwickelte sich zu einer weiteren Nullrunde, der einzige Einsatz bisher führte um vier Uhr früh an einen Aussentatort im West Village, wo ein Hausbesitzer im Garten von seinem Rasenmäher angeschossen worden war. Die scharfe 357er-Patrone, die zuvor im Gras geschlummert hatte, war von den Rotorblättern angesogen und gezündet worden und dann aus dem hinteren Teil des Geräts in seine Eier gefeuert.
Als Billy und Stupak am Tatort eintrafen – Schüsse waren nun mal Schüsse –, durchkämmten die Sprengstoffexperten bereits den Garten nach weiteren Blindgängern, und irgendein Witzbold hatte den Luxusrasenmäher mit Handschellen an eine Laterne gekettet.
«Wer bitte schön mäht denn um vier Uhr morgens seinen Scheissrasen», fragte der Schichtführer.
«Mich persönlich würde ja mal interessieren, wie die Patrone überhaupt in seinen Garten gelangt ist.» Billy gähnte. «Irgendwelche Anhaltspunkte?»
«Wir hatten letzten Monat Probleme mit irgendwelchen Primaten aus New Jersey, aber nichts mit Waffen.»

Das ist die Art von Alltag bzw. Allnacht, in der Billy Graves steckt, während er wegen der Abgänge der Unantastbaren in einem moralischen Dilemma steckt und der unheimliche Stalker den Druck verstärkt.
Richard Price ist ein grossartiger Roman gelungen, der unglaublich spannend und witzig ist, jedoch gleichzeitig gewichtige Fragen um Recht und Gerechtigkeit, um Schuld und Rache, um Verantwortung und Moral aufwirft, ohne aber simple Antworten darauf zu haben oder gar zu moralisieren.

Der Autor
Richard Price, *1949 in New York City, ist in einer Sozialsiedlung in der Bronx aufgewachsen. 1974 erschien seit erster Roman «The Wanderers» über eine Jugendgang in der Bronx (1979 von Philip Kaufman verfilmt). Price veröffentlichte seither mehrere Romane, mehrheitlich Polizeigeschichten, und schrieb Drehbücher für bekannte Filme wie «The Color of Money» (1986; Regie: Martin Scorsese), «Sea of Love» (1989; Regie: Harold Becker) und «Shaft» (2000; Regie: John Singleton) sowie für mehre Folgen der Polizei-Serie «The Wire».

Der letzte Satz
Sie betrachtete ihn ausdruckslos, und Billy war sich unsicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte, oder ob es ihr egal war; dennoch so fand er, war es ein ganz passables Happy End.


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